Die Kunst Gott zu lieben
Liebe wird üblicherweise verstanden als sentimentales oder romantisches Ideal. Im Stadium des Verliebtseins verlieren wir oft den Blick für das Alltägliche. Dadurch, dass wir permanent mit einer anderen Person beschäftigt sind, löst sich die Begrenztheit der eigenen Person in einer lieblichen Gefühlswolke auf. Wir denken nur noch an den geliebten Menschen und streben nach Verschmelzung und Ekstase.
Es ist ein geheimes Gesetz der Liebe, dass Liebende gerade deshalb erfüllt sind, weil sie selbstvergessen, nur an das Glück des anderen denken. Sigmund Freud sprach diesbezüglich von „ozeanischen Gefühlen“, die sich aus einer frühen Phase der Kindheit erklären lassen, in der das Ich und die Umwelt noch nicht als getrennt erlebt werden. Doch intensive Verliebtheit wird meistens nur für eine gewisse Zeit erlebt. Oft folgt die Ernüchterung, wenn die geliebte Person nicht mehr als so vollkommen wahrgenommen wird, wie man es sich vorgestellt hat. Dabei ist es doch für uns ein Segen so sein zu dürfen, wie wir sind, denn erst dann fühlen wir uns wirklich geliebt! Wir möchten unser Alltags-Ich nicht ständig auf Hochglanz polieren, sondern uns vorbehaltlos mit unseren kleinen oder großen Schwächen angenommen fühlen. Jedes Individuum hat seine liebenswerte Besonderheit, darum kann wahre Liebe der Wirklichkeit standhalten und unseren Nächsten gelten lassen, so wie er ist.
Liebe ist aber viel mehr. Die Griechen benutzten verschiedene Vokabeln, um Liebe zu beschreiben. Dazu zählte unter anderem: Lust und Begehren in einer Liebesbeziehung, Liebe zu Familienmitgliedern, Freundesliebe, Nächstenliebe oder die Hingabe des Herzens an Gott: eros, storge`, philia, caritas, agape.
Nächstenliebe richtet sich in erster Linie an die Menschen, denen wir im Alltag begegnen, denn nur dem unmittelbar Nächsten können wir wirklich Zuwendung, Sicherheit und Verständnis entgegenbringen. In der buddhistischen Philosophie fängt die Liebe zu Gott bei der Liebe zum Mitmenschen an. Der Nächste ist nicht nur „ein Mensch wie ich“, sondern er ist Ich, er ist mit mir eins. Die Trennung zwischen Ich und Du ist Täuschung, Maya. Hermann Hesse sagte dazu: „Erst, wer eingesehen hat, dass die Welt eine Einheit ist, dem ist ohne Weiteres klar, dass es sinnlos ist, wenn die einzelnen Teile und Glieder dieses Ganzen einander wehtun.“
Mystiker aller Zeiten und Religionsrichtungen haben unmissverständlich klargemacht, dass es keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe gibt. Im Strömen der Liebe zum Du erwächst die Erkenntnis, dass wir nicht selbst der Quell der Liebe sind. Agape symbolisiert die Aspekte und Wirkungen der göttlichen Liebeskräfte.
Agape ist nach Paulus die höchste der drei christlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe, eine bedingungslose, selbstlose Liebe, die sogar ihre Feinde liebt. Es ist eine spirituelle, gemeinschaftliche Liebe, geprägt durch den Heiligen Geist, die sich nur durch den Glauben erschließt:
Wir wissen von zahllosen Mystikern, Heiligen und frommen Menschen, dass die Liebe zu Gott keine Utopie ist, sondern, dass sie als etwas unendlich Erhabenes, Erfüllendes und Beglückendes erlebt werden kann.
Wie ist es möglich, das höchste Wesen, Gott, zu lieben, den wir nie gesehen haben? Im Hohelied Salomos aus dem alten Testament wird das Suchen und Finden, das Sehnen und gegenseitige Lobpreisen zwischen Seele und Geist geschildert.
Im Wechsel wird Gott als Geliebter besungen, der einer erweckten und geliebten Seele antwortet. Es ist ein Lied der Liebe Gottes zum Menschen:
Der Geliebte spricht zu mir:
„Steh auf, meine Freundin, so komm doch!
Denn vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen.
Auf der Flur erscheinen die Blumen; die Zeit zum Singen ist da.
Die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land.
Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte;
die blühenden Reben duften.
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch!
Meine Taube im Felsennest versteckt an der Steilwand
Dein Gesicht lass mich sehen, Deine Stimme hören!
Denn süß ist Deine Stimme, lieblich Dein Gesicht.“ (AT Hohelied 10–14)
Es gibt zahlreiche Erkenntnisquellen im schriftlichen Nachlass von Mystikern. Darin finden wir transzendentale Wahrheiten und viele klare und tiefe Bewusstseinsinhalte, denen eine mühevolle Suche auf dem spirituellen Weg vorausging. Ein Mystiker bezieht seine Erkenntnis aus Erfahrungen, die nicht durch die herkömmlichen Sinne verursacht und rational verarbeitet werden, sondern die er mittels eines speziellen psychischen Sensoriums empfängt, das bei einem gewöhnlichen Menschen wenig entwickelt ist. Es geht um eine innere Erfahrung, während ein Naturwissenschaftler äußere Dinge für seine Erkenntnisse heranzieht. Mystiker haben den Zugang im innersten Wesenskern gefunden, dort glüht ein Funke, denen sie sich immer wieder neu zuwenden, hin zu der Quelle, die wesensverwandt vom göttlichen Licht abstammt.
Hildegard von Bingen war eine deutsche Mystikerin, die großen Einfluss auf die Mächtigen ihrer Zeit hatte, was für eine Frau im 12. Jahrhundert ganz außergewöhnlich war. Sie hat ein umfangreiches theologisches, geistliches, philosophisches, musikalisches, naturkundliches Werk hinterlassen und viele Gedichte und Hymnen geschrieben:
Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen
überflutet die Liebe das All,
sie ist liebend zugetan allem,
da sie dem König, dem höchsten,
den Friedenskuss gab.
Die Seele ist wie ein Wind,
der über die Kräuter weht,
wie der Tau,
der über die Wiesen träufelt,
wie die Regenluft,
die wachsen macht.
Desgleichen ströme der Mensch
Wohlwollen aus auf alle,
die da Sehnsucht tragen.
Ein Wind sei er,
der den Elenden hilft,
ein Tau,
der die Verlassenen tröstet.
Er sei wie die Regenluft,
die die Ermatteten aufrichtet
und sie mit Liebe erfüllt.
(Hildegard von Bingen)
Bilder und Symbole umschreiben die Geheimnisse einer anderen Wirklichkeit. Wer zu ihnen vordringen will, muss den Weg von außen nach innen gehen. Nur ein geistig-seelischer bewußtseinswandelnder Prozeß führt zur Erkenntnis göttlicher Weisheit, Liebe und Barmherzigkeit und zu innerem Frieden.
„Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie blähet sich nicht auf, sie stellet sich nicht ungebärdig
sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit,
sie freuet sich aber der Wahrheit,
sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“
(Paulus: 1. Brief an die Korinther 13,4-7)
„Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel
Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.“
(Matthias Claudius)
„Liebe heißt, mit wachem Herzen leben.“
(Thích-Nhât-Hanh)
Christiane Goebel, Goldenes Rosenkreuz Kiel, www.rosenkreuz.de